Laudatio

Es gilt das gesprochene Wort

Lieber Herr Interschick, meine sehr geehrten Damen und Herren,

„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ Diese Aussage des Künstlers Paul Klee ist eines der in Eröffnungsreden am meisten verwendeten Zitate. Und warum? Weil dieser Satz an Gültigkeit bis heute nichts verloren hat! Künstler haben die Begabung, auf gesellschaftliche Umstände und vorgefundene Situationen mit den unterschiedlichsten Materialien, Möglichkeiten und Methoden in kreativer Weise und vor allem in kreativierender, also zu Kreativität anregender Weise zu reagieren. Das Zitat gilt natürlich insbe-sondere dann, wenn wir, wie heute, Kunstwerke zu sehen bekommen, die unsere Umwelt neu arrangieren, den Alltag auf diese Weise reflektieren, ihn aber auch zu einem Arrangement komprimieren – und damit begrüße ich auch sehr herzlich die beiden Künstler, die ab heute mit ihren Gemälden im BBK zu sehen sind: Reinhard Dassler und Lars Lehmann.

Meine Damen und Herren, schon in den Villen der alten Römer gab es Stillebendarstellungen, zu einer selb-ständigen Gattung in der Malerei entwickelte sich das Stilleben allerdings erst und nach langer Pause zu An-fang des 17. Jahrhunderts. Seit dieser Zeit kann man ein stetes Auf und Ab in Bezug auf die Intensität ver-zeichnen, mit der sich Künstler diesem Genre widmeten, gleichzeitig lässt sich aber auch eine nicht mehr abreißende Faszination für die unterschiedlichen Spielarten innerhalb der Malerei nachweisen. Das „Kunst-lexikon“ führt diesbezüglich aus, das Stilleben sei „nichts für schwache Nerven. Bleiche Totenschädel, Insek-tenfraß, Mäuse, zerbrochenes Glas. So sehen die Zutaten für ein veritables Vanitas-Stilleben aus dem 17. Jahrhundert aus …, das mahnend vermitteln will: Memento mori (Gedenke, dass du sterben musst).“ Ganz so brutal geht es bei Lars Lehmann und Reinhard Dassler nicht zu, wenngleich sie den Prinzipien von Symbolik und Ästhetik folgen. Die Sehnsucht nach Schönheit, die dem Genre gleichermaßen zugrunde liegt, ist zudem bei beiden Künstlern ein wichtiges Kreativmoment. „Sehnsucht Schönheit“ ist die Ausstellung entsprechend sinnfällig betitelt, in der Sie, meine Damen und Herren, Gemälde zweier Generationen im Dialog, aber auch im Gegenüber erleben können.

Was Dassler und Lehmann mit den Altmeistern des Stillebens, mit den tradierten Unterarten des Stillebens verbindet, ist einerseits die Lust an der Darstellung der kleinen Nebensächlichkeiten des Alltags, andererseits aber auch der Wille, unterschiedliche Stofflichkeiten und Texturen möglichst realitätsnah darzustellen und die Bandbreite der Gegenstände, mit denen wir uns umgeben, so greifbar wie möglich widerzugeben. Dabei greifen beide Künstler tief in die Bildgeschichte des Stillebens und entwickeln daraus ihre je eigenen Bilder. Wobei sie beide dabei sehr traditionell vorgehen: Sie arrangieren im Atelier ihre Objekte, fertigen Skizzen, nähern sich dem Gesamteindruck auf diese Weise; daraus entsteht dann zuletzt das Öl- oder Acrylgemälde. Sie hören es schon, meine Damen und Herren: Es ist ein langwieriger Malprozess, bei dem beide den An-spruch haben, das, was sie arrangiert haben, realitätsgetreu auf Leinwand und Papier zu bannen.

Zueinandergefunden haben die beiden Maler erst unlängst: Während Reinhard Dassler seit seinen Studien-zeiten an der hiesigen Akademie in Karlsruhe lebt und arbeitet und zwischenzeitlich als „Altmeister der Ge-genständlichkeit“ gilt, ist Lars Lehmann erst unlängst aus Güstrow ins Badische zugezogen. Aber neben der Stilleben-Malerei eint beide Künstler noch ein weiteres: Sie stammen beide aus dem Osten: Reinhard Dassler wurde 1933 im ostpreußischen Elbling geboren und kam, nachdem er bereits 1945 westwärts geflohen war, noch deutlich vor dem Mauerbau 1950 nach Karlsruhe. Der eine Generation jüngere Lars Lehmann wuchs in Greifswald in der damaligen DDR auf und studierte nach der Wende in den 1990er Jahren an der Hochschule der Künste in Berlin und in Ravenna.

Aber auch, was die Auswahl der Objekte und die Lichtführung selbst betrifft, sind Gemeinsamkeiten der bei-den Maler zu entdecken. Letzteres hängt sicher mit einem vergleichbaren „Setting“ zusammen, innerhalb dessen Dassler und Lehmann arbeiten, auch wenn der eine im Altbau, der andere in einer Wohnung aus den 60er Jahren dem Maluntergrund zu Leibe rückt. Reinhard Dasslers Atelier befindet sich in einem der grün-derzeitlichen Bauten in der Südweststadt, ganz offensichtlich hat in der Wohnung auch zuvor schon ein Maler gelebt, ja mehr noch: wurde seine Wohnung für einen Maler gebaut. Ein riesiges Atelierfenster nach Norden erhellt den Raum, von Sonnenlicht wird er beim Malen sicher nie geblendet. Die Staffelei steht schräg dazu, seine Stilleben-Arrangements mit einigem Abstand zum Fenster, so dass das Tageslicht von links sowohl auf den künftigen Bildträger als auch auf das Arrangement fallen kann. Ähnlich verhält es sich bei Lars Lehmann: Die Staffelei ist im rechten Winkel zum Fenster positioniert, vor dem die abzumalenden Arrangements posi-tioniert sind. Das Licht fällt leicht von oben ein, wodurch ein mittlerer Kontrast erzeugt wird. Gunter Rambow wies 2009 in einer Eröffnungsrede zu Arbeiten von Lars Lehmann darauf hin, dass diese Art der Lichtführung bereits seit Rembrandt bekannt ist, im 20. Jahrhundert aber von der Fotografie bestimmt wird. Deshalb be-zeichnet er diese Lichtführung nach dem New Yorker Fotografen Richard Avedon als „Avedonlicht“. Was bei letzterem der riesige Spot, besorgt bei Lehmann – und, wie ich hinzufügen möchte – auch bei Dassler das Atelierfenster.

Im Windschatten der Fotografie konnte sich um 1900 die Malerei von der Abbildhaftigkeit lösen, denn nun stand eine Methode bereit, mit der die Realität exakt wiedergegeben werden konnte. Dass bereits die Wahl des Bildausschnitts eine Interpretation darstellt, war den Menschen damals noch nicht bewusst, musste erst noch als Erkenntnis reifen. Aber, und das ist mir wichtig sowohl bei Reinhard Dassler als auch bei Lars Leh-mann, in ihrer Nachfolge entstand in jedem Fall ein freierer Umgang mit den Dingen, die uns umgeben, die beide Maler wiederum in ihren Gemälden einfangen. Vergleicht man ihre Stilleben mit jenen eines Willem Claesz Heda, eines Samuel Hoogstraten oder eines Georg Flegel – allesamt barocke Maler –, wird deutlich, dass Lehmann und Dassler trotz eines langwierigen, über die Jahrzehnte perfektionierten Malstils nicht an den Illusionismus und den Realismus der damaligen Zeit heranreichen. Aber das ist auch gar nicht das Ziel – und das meine ich keinesfalls abwertend oder despektierlich! –, denn die Stofflichkeit einer Vase im Unter-schied zu einer textilen oder hölzernen Oberfläche einzufangen übernimmt ja bis heute die Fotografie. Viel-mehr geht es nämlich darum, mithilfe eines hohen Grads an Wiedererkennung den Betrachter auf die einfa-chen Alltagsdinge hinzuweisen, das Individuelle in einer von Konsum geprägten Gesellschaft hervorzuheben. Das haben zwar die Maler des Kubismus ebenfalls schon gemacht, allerdings haben diese sich dabei weit von einer realistischen Darstellung entfernt; analog zu der unsicheren, zersplitterten, sich fragmentierenden Welt wirken die Stilleben der Kubisten oft wie Sprengzeichnungen einer in Auflösung begriffenen Gesellschaft. Dagegen greifen Dassler und Lehmann weniger ihre Umgebung auf, sondern drapieren und arrangieren jene Dinge, die sie faszinieren und die für sie eine wie auch immer geartete Bedeutung haben.

So rückt Reinhard Dassler das Nebensächliche schon allein dadurch in den Vordergrund, dass er die Alltags-stilleben, die wir alle en passant beispielsweise durch das Ablegen von Haushaltsutensilien und der Zeitung auf Untergründen wie einer Waschmaschine kreieren, einfängt, komprimiert und mit kleinen Merkwürdig-keiten und Zutaten anreichert. Die tote Ente, die abgebrannten Kerzen, die verdorrten Blumen – sie alle kön-nen natürlich als Hinweise auf die Tradition des Vanitas-Stillebens gelesen werden. Aber sind wir mal ehrlich: Ich vermute, niemand von Ihnen würde eine tote Ente auf einem Beistelltischchen ablegen, vor allem nicht neben einem nachlässig hingeworfenen Brief und vor dem Wollwaschmittel. Das Arrangement entbehrt nicht der Situationskomik, auch wenn es auf den ersten Blick irritiert, denn der Alltag, so könnte man meinen, hat für den, der bewusst auf die kleinen Nebensächlichkeiten fokussiert, immer wieder Überraschungen parat. Insofern ist Reinhard Dassler sicher nicht unzeitgemäß, sondern auf der Höhe der Zeit – und ich betone diesen

 

Umstand, weil er sich in den 1970er Jahren mit Helmut Goettl, Klaus Langkafel und Ulrich Sekinger zusam-menschloss zur Gruppe „Die Unzeitgemäßen“. Der Name war Programm: Einerseits ging es um die Darstel-lung zeitgenössischer politischer Inhalte in der Nachfolge von Realismus und Neuer Sachlichkeit, andererseits um die Auseinandersetzung mit klassischen Mal- und Drucktechniken. Karlsruhe war in diesen Jahren eines der Zentren eines neuen Realismus neben Berlin, Hamburg und Braunschweig. In einer Zeit, in der es im Westen ziemlich verpönt war, gegenständlich zu arbeiten, sind hier realistische Tendenzen zu verzeichnen – was auch an den Professoren der Karlsruher Akademie lag, denn mit Karl Hubbuch und Wilhelm Schnarren-berger unterrichteten bis Ende der 1950er Jahre zwei prominente neusachliche Maler in Karlsruhe und präg-ten damit eine ganze Schülergeneration. Aber auch HAP Grieshaber ist als wichtiger Impulsgeber zu nennen – sein politisch-gesellschaftliches Engagement hinterließ auch bei dem Studenten Dassler seine Spuren, wie auch Schnarrenberger, bei dem er ebenfalls studierte.

In dem Manifest, das die vier Maler Dassler, Goettl, Lankafel und Sekinger 1984 unterzeichneten, heißt es: „Wir koppeln uns aus der Perfektion des Schneller, Besser, Schöner aus. Der Mensch ist uns unersetzlich. Wir hängen an seinem Bildnis und an seinem Tun.“ Deutlich wird, dass es noch einen weiteren Schwerpunkt im Werk von Reinhard Dassler gibt, nämlich den Menschen, der für ihn im Zentrum seines künstlerischen Schaf-fens steht und von dem aus seine Arbeiten zu denken sind. Dabei nähert er sich dem Menschen nicht formal, sondern lässt sich völlig auf das optische Erlebnis ein. Egal ob Wohnzimmer, Küche oder der Raum unserer Träume – der Mensch bewegt sich in diesen realen oder fiktionalen Räumen, die Dassler in ihrer Zeitbezo-genheit und gesellschaftlichen Verflochtenheit einzufangen sucht.

Dieses gesellschaftskritische oder zumindest die Gesellschaft reflektierende Moment ist bei Lars Lehmann weit weniger ausgeprägt. Es scheint aber doch auf in seinen Arrangements, wenn er, der in der DDR und mit dem sozialistischen Realismus aufgewachsen ist, unter anderem Lauschaer Glas in schier unendlichen Varia-tionen verwendet und damit auf eine Gesellschaft verweist, die mit dem Mauerfall untergegangen ist. Wobei – das, was er uns zeigt, nämlich die gläsernen Alltagsgegenstände aus dem Thüringischen Lauscha – ist eine echte Erfolgsgeschichte. Denn ausgehend von der dort erfolgten Erfindung der Christbaumkugel 1847 hielt sich die Tradition des Glasblasens über die DDR-Zeit bis heute.

So konsequent wie die Zugewandtheit zur Gegenständlichkeit bei Reinhard Dassler schon immer gewesen zu sein scheint, so sehr hat sich Lars Lehmann an die Gegenständlichkeit über Kandinsky, Klee und die Zeitströ-mungen des 20. Jahrhunderts bis zum Informel herantasten müssen. Seinem eigenen Bekunden nach hat er an der HdK Berlin zunächst abstrakte Bilder gemalt, sich durch die Stile des 20. Jahrhunderts „durchprobiert“, bis er – nicht zuletzt über das Stipendium in Ravenna – bei dem Aspekt der Bilderzählung anlangte. Wie die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Maler, denen es nicht zuletzt aufgrund des kirchlichen Kontextes ein besonderes Anliegen war, eine Bedeutung im Bild zu erzeugen, will auch Lars Lehmann die Welt in seinen Bildern thematisieren. Dieser Ansatzpunkt führte ihn dann auf geradem Weg zum Stilleben, das bei ihm zur Kunst- und Wunderkammer wird, „in der eher zufällige Begegnungen und Assoziationen der vorhandenen Dinge immer neue Bildfindungen generieren.“ Die Kunst- und Wunderkammer war in höfischer Zeit ein Ort des Staunens und Entdeckens gleichermaßen. Disparates wurde vereint, neue Zusammenstellungen führten zu Beobachtungen über Disziplingrenzen hinweg. Dabei ist die Kunst- und Wunderkammer die Vorläufer-Institution des Museums, das sich im besten Fall das Staunen und (neu) Entdecken für die Öffentlichkeit er-halten hat. Diese Lust an Form, Farbe und Materialität, die lustvolle Kombination von eigentlich nicht Zusam-mengehörendem, die fast kindliche Freude am Arrangement – all das hat sich auch Lars Lehmann mit seinen Kunstwerken erhalten.

 

Was mich persönlich aber besonders fasziniert hat an Lars Lehmanns Arbeiten, ist eine Leere, die oft trotz überbordender Fülle an Gegenständen das Gemälde ausstrahlt. Diese Werke, die wohl ihren Ausgang in sei-ner Serie der Falträumen nehmen, bei denen er architektonische Leere anhand von Pappschachteln ausge-lotet hat, erinnern an die menschenleeren, fremd und befremdlich wirkenden Kunstwerke der Pittura Me-tafisica, aber auch die fern leuchtenden und doch unerreichbaren Stadtlandschaften eines Alexander Ka-noldt. Dies mag belegen, dass sich Lars Lehmann fest verankert im Kanon der Bildtradition des 20. Jahrhun-derts weiß, von dem ausgehend er, wie Regina Erbentraut im 2011 erschienenen Ausstellungskatalog ein-drücklich nachgewiesen hat, sich den Fragen von Raum, Licht, Farbe und Form widmet, um damit in der Nachfolge von Giorgio Morandi – aber auch der Impressionisten! – „die Bilder und Gefühle mitzuteilen, die die sichtbare Welt in uns hervorruft.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren, obwohl die beiden Künstler Reinhard Dassler und Lars Lehmann eine Generation voneinander trennt, sind sie sich in ihrer Malerei einerseits sehr ähnlich, in ihren Schwer-punktsetzungen aber doch recht unterschiedlich. Beiden gemeinsam ist aber doch der dezidierte, fast schon sezierende Blick auf ihre Umwelt, die sie künstlerisch neu sortieren, arrangieren, sie sich damit in einem vorgeschalteten Schöpfungsprozess so gestalten, wie sie dann in ihren Bildwelten auftritt. Das genaue Hin-sehen, die Kontemplation, die mit dem Malprozess jahrhundertelang einherging, scheint in einer von Bilder-fluten geprägten Gegenwart anachronistisch. Vielleicht ist dieses Innehalten, der genussvolle zweite Blick, die intensive Auseinandersetzung mit dem, was ihnen bildwürdig erscheint, aber so wichtig wie selten zuvor, um nicht zu vergessen, was wichtig und was vielleicht doch eher nebensächlich ist. Meine Damen und Herren, ich glaube, jenseits aller Differenzen eint dieser Aspekt das Kunstschaffen dieser beiden Maler. Ihr Ringen um Schönheit in einer Welt, bei der scheinbar alles schön – und doch so vergänglich ist. Schon der Barock-Dichter Andreas Gryphius notierte in seinem Sonett „Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden. Was dieser heute baut, reist jener morgen ein […] Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein. Jetzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.“ Dagegen hilft (auch wenn wir nicht mehr im Luther-Jahr weilen) der ihm zugeschriebene hoffnungsvolle Ausspruch „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unter-ginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Oder: Kunst zu betrachten. In diesem Sinne wün-sche ich Ihnen einen erquicklichen Vormittag mit den beiden Künstlern, im Gespräch und natürlich im Dialog mit den präsentierten Werken. Vielen Dank!

© Dr. Chris Gerbing, Karlsruhe, 2018 www.chrisgerbing.de