»Mantra« – Bemerkungen zur Malerei von Lars Lehmann
Von Dr. Volker Probst
»Diese meine Lebensarbeit ist mein oberstes Gesetz, nicht erlassen worden, sondern mit mir geboren.«
Ernst Barlach, Brief an seinen Bruder Hans Barlach, 18. August 1935
In der politischen Öffentlichkeit wird manchmal von »Mantras« gesprochen oder aber auch von »gebetsmühlenartig« vorgetragenen Standpunkten. Beides ist in diesem Kontext negativ konnotiert und meint die bloße Wiederholung von bekannten Sachverhalten. DieWiederholung soll dem Gesagten Nachdruck verleihen.
Nun hat Lars Lehmann eine Ausstellung seiner Werke der Jahre 2017 bis 2020zusammengestellt unter eben dem Titel »Mantra«. An dieser Stelle ist es angebracht, auf die eigentliche Bedeutung des Wortes hinzuweisen. Vor allem im Mahayana-Buddhismus bezeichnet das Sanskrit-Wort »Mantra« eine kraftgeladene Silbe oder eine Folge vonSilben. Sie geben kosmischen Kräften sprachlichen Ausdruck, sollen den Geist schützen. Mantras werden rezitiert und können beim Meditieren auch visualisiert werden. Das bekannteste und kürzestes Mantra ist OM. Dabei ist die Wiederholung charakteristisch fürdie Verwendung von Mantras und verstärkt ihre Wirkung. In eine sogenannte Gebetsmühle werden Mantras – auf Papier geschrieben – eingelegt und werden durch dieDrehbewegung in die Welt hinausgetragen, wo sie ihre heilbringende Wirkung entfalten sollen. Für den Gläubigen ist das Rezitieren von Mantras ein quasi sakramentaler Akt.
In welchem Zusammenhang steht nun die Ausstellung mit Werken Lars Lehmann mit diesem Begriff aus dem Buddhismus? Ein Blick auf das großformatige Gemälde gleichenTitels zeigt: Das Hauptmotiv, ein Eimer, wird im Bild nicht nur mehrfach wiederholt, sondern auch in Form und Farbe abgeändert.
Die Welt erscheint in der Zusammenstellung von Lehmanns Stilleben verdichtet. Mit denGegenständen holt der Maler die Welt ins Bild hinein. In der immer von neuem begonnenen Aufzählung der Dinge formuliert Lehmann sein Mantra. Als Repräsentantendes Alltags nehmen sie meist Informationen oder Botschaften ihrer unspektakulärenExistenz mit in den begrenzten Bildausschnitt. Aber: Da dem Betrachter die meistenGegenstände bekannt sind, weil ihre Konnotation uns im Alltag vertraut ist, führt uns der Maler zunächst auf eine falsche Fährte. Es ist eben nicht die gewohnte Alltags situation,die uns im Bild begegnet. Der Maler konstituiert eine neue Wirklichkeit, eine, die nachihren eigenen Gesetzen und den Gesetzen des Malers ins Bild gesetzt wird.
Lehmann stellt uns in seinen Bildern keinen eigentlichen Ereignisraum vor, denn es ereignet sich darin nichts im Sinne einer fortlaufenden Erzählung. Die menschliche Figur sucht man meist vergebens. Es entstehen Bild-Räume des So-Seins von statischenZuständen, denen wir uns betrachtend nähern. Man muss genau hinsehen, jeden einzelnen Gegenstand betrachten. Man glaubt, die Dinge zu kennen, stößt aber immer wieder auf Überraschendes, so etwa auf eine japanische Lackdose, auf der ein Kranich zuerkennen ist. Im fernen Osten ist der Kranich ein Glückssymbol und ein Garant für langesLeben. Wir finden aber auch andere Gegenstände, die selten geworden und wohl kaum mehr in Gebrauch sind, wie eine Handkaffeemühle. Sie entführen uns in eine vergangeneZeit. Sie künden wie Relikte einer fernen Epoche, wie aus der Zeit unserer Kindheit.Darauf verweisen auch die zahlreichen Spielzeuge, die Lehmann immer wieder in seinenBildern zu den anderen Objekten gesellt. Nur auf den ersten Blick erscheinen dieseKompositionen wie eine Idylle. Aber das Rätsel der Dinge hält Dramen und Tragödienbereit: Im Gemälde »Der graue Affe« (2017) schleppt das ausgestopfte Krokodil eineGeschenkverpackung im Maul davon; und Lehmann stellt uns in seiner »Strange family«(2017) in der Tat eine wirklich seltsame Familie vor, deren stumm-erstarrte Mitglieder von einem Tyrannen beherrscht werden. Seine Fratze erschreckt uns, flößt uns Angst ein und erinnert an einen Teufel. Beide Szenen verweisen auf Kasperle-Spiele, in denen wir alsKinder in eine Welt der Gefahren, Verwicklungen, Ängste, aber auch des Lachens, der ungetrübten Freude und der ausgelassenen Heiterkeit für Momente entführt worden sind.Hier wird ganz offensichtlich, dass Lehmann an einer malerischen Rekonstruktion vonErinnerung arbeitet. Ob ihre Wurzeln in der Autobiographie des Malers begründet sind, sei zunächst dahingestellt.
Die Gegenstände seiner Stilleben sind meist in einem nicht näher gekennzeichnetenInnenraum angeordnet. Wir können die Situation nicht weiter bestimmen, sind so auf dieDinge selbst verwiesen. Die scharfen Schatten modellieren die Gegenstände, wobei wir die Lichtquelle weder sehen, noch deren Standort genau lokalisieren können. Nur selten gewährt uns der Maler Ausblicke in die Landschaft oder deutet einen Horizont an. In anderen Stilleben wiederum finden sich die Gegenstände in einen Außenraum gestellt, dort eher wie auf einer festen Unterlage im Freien präsentiert. Hier kann unserBlick bis zum Horizont schweifen. Im Vordergrund ordnet der Maler seine Kompositionen an, unverstellt und ganz nah beim Betrachter. Die Dinge stehen vereinzelt, erscheinen jedoch durch geheimnisvolle Beziehungen auch wieder zusammengehörig. Der Blick geht an den Gegenständen vorbei und verliert sich im Hintergrund der flachen Landschaft bis hin zu zarten Horizontlinien, die Friedrich Nietzsche einmal als die »festen, ruhigen Linien am Horizonte des Lebens« bezeichnet hat. Diese Spannung zwischen Vorder- undHintergrund ist ein Kompositionsgrundsatz, den wir aus der Malerei der Renaissance kennen: Das Hauptmotiv präsentiert der Maler im Vordergrund, läßt den Blick vorbei bis in die Ferne gleiten.
Lars Lehmann hat sich für eine altmeisterliche Maltechnik entschieden. Zudem wird jedesGemälde durch Studien – zunächst meist im Skizzenbuch – und Vorzeichnungen vorbereitet. Stadien als Gouache und in Acryl folgen, bevor die Fassung in Öl entsteht. FürLehmanns Arbeitsweise ist dies unabdingbar: Das sorgfältige Vorbereiten der Gemälde durch Studien, also das stete Heran- und Voran arbeiten, um die Komposition, die Farb-,Licht- und Schattenwirkung aus zuponderieren, bevor die Umsetzung in Öl erfolgen kann.Diese mantra-artige, also wiederholende Arbeitsweise zeigt ein Phänomen: Die erste flüchtige Skizze enthält bereits alle späteren Elemente der Komposition. Im weiterenArbeitsverlauf werden die Formen klarer herausgearbeitet, die Farbigkeit der einzelnenElemente prägnant bestimmt und die Lichtführung festgelegt. Im Ölgemälde, also in der letzten Fassung, formuliert Lehmann sein ›gültiges Mantra‹ im Bild.
Diese sukzessive Technik ist in der Gegenwartskunst nur noch wenig verbreitet. SeinLehrer Volker Stelzmann und einige Malerkollegen wie Michael Triegel arbeiten in dieser aufwendigen Technik. Sie ist nicht nur aufwendig in der Malweise, sondern einentscheidender Faktor bei dieser Technik ist die Zeit. Dient die Skizze einem raschenFesthalten einer Idee oder eines ersten Eindrucks, so verlangsamt sich die Malweise bei fortschreitend angewandter Technik. Eben diese Technik zwingt den Maler zu einem langsamen akribischen Arbeiten, bei dem Schicht für Schicht aufgetragen und so dasGemälde aufbauend zur Vollendung gebracht wird.
Diese fortschreitend komplizierter werdende Maltechnik bewirkt zugleich eine stete Verlagsamung des Arbeitsprozesses. In dieser Wiederholung der gleichen Komposition in einer anderen Maltechnik erfolgt eine Präzisierung der Bildidee und hier kann man sicherlich auch im übertragenene Sinn von Mantra sprechen: Der Maler wiederholt dasBild ein ums andere Mal und verortet es in unserer Welt. Auf diese Weise arbeitend, nimmt hier Lehmann eine Position ein, die sich in einen Gegensatz zum aktuellen, auf raschenWechsel angelegten Kunstbetrieb stellt.
Diese scheinbare ewige Wiederkehr des Genres Stilleben bei Lehmann artikuliert sich nicht als bloße Wiederholung, sondern es sind stets erneute Versuche, die Welt zu deuten, dem unablässigen Wirken unterschiedlicher Kräfte auf den Grund zu kommen: solchen Käften wie z.B. des Marktes, der Nötigung zu unablässigem Konsum, denen wir alle ausgesetzt sind.
Dadurch stellt sich Lehmann zudem ganz bewußt nicht nur konsequent mit einer geistigenHaltung gegen den Zeitgeist, im handelnden Tun wird seine Arbeit konkret. Der aktuelleZeitgeist predigt nicht nur unablässigen Konsum, auch der Lauf des Lebens hat eine rasende Geschwindigkeit angenommen. Nicht zuletzt durch die neuen Möglichkeiten weltumspannender Kommunikation in Sekundenbruchteilen wird jeder Ansatz zurReflexion im Keim zunichte gemacht. So ist für Lehmann das Atelier nicht nur seineWerkstatt als Arbeitsstätte verstanden, sondern es ist ein Rückzugsraum, in dem eine spürbare, ja notwendige Entschleunigung erfolgt. Hier bestimmt der Maler die Abfolge derArbeitsschritte und damit zugleich sein ihm gemäßes Tempo abseits der vorbeifleißenden Welt. Nur so gelingt das Werk seiner Hände in der Zwiesprache mit den Dingen. Und noch eine unbequeme Position nimmt Lehmann nicht nur innerhalb des Kunstbetriebs, sondern auch bei der Auswahl seiner Themen ein: In seiner Warenästhetik formuliert Lehmann eine Kritik an der Tristes des industriellen Zeitalters und seinerProdukte. Er entkleidet die Produkte, raubt ihnen ihre vermeintliche Individualität, indem erBeschriftungen, Etiketten, Produktkennzeichnungen weitgehend entfernt und nur die Form, z.B. die einer Milchtüte als Typus ins Bild setzt. Überhaupt ist die Reduktion von Formen, auch dort wo es um konkret benennbare Gegenstände geht, ein Merkmal von LehmannsMalerei. Innerhalb der Komposition arbeitet Lehmann mit Kontrasten, etwa wenn er dieForm- und Farbenpracht einer tropischen Muschel und deren geheimen Bauplan zurEntfaltung bringt. Muschel contra Milchtüte könnte man sagen, was zugleich bedeutet:Naturform mit Farbe und Zeichnung gegen die Monotonie der Produkte aus derKonsumwelt zu stellen.
Mit seinen Stilleben, die uns in ihrer Komplexität auffordern, dem Einzelstück wie derWechselwirkung der Objekte untereinander nachzugehen, legt der KünstlerBedeutungstrassen, denen wir folgen können. Der einzelne Gegenstand wie dieGesamtkomposition eröffnen die Möglichkeit für deutende Ansätze. Der Betrachter kann seine Assoziationen aktivieren und dabei aus seinem Bilder- und Erfahrungsschatz schöpfen. Der Betrachter wird zum Resonanzraum. Dies verweist auf einen Nebenweg.Der Schriftsteller Ernst Jünger begann im Jahr 1958 mit seinem »Mantrana«, »einDominospiel mit Mantras«, wie er es nannte. Allerdings setzt Jünger Mantra mit Maxime gleich und die in thematisch geordneten Sprüche mit Trassen. Er charakterisiert dieseSpracherfindungen: »Mantrana ist ein Spiel wie es ein Spiel ist, Muscheln am Strand zusuchen, sie im Sande zu Mustern auszulegen und wieder zu zerstreuen.«
Hier wird ein grundlegender Unterschied zur Kunst von Lars Lehmann offensichtlich.Gerade der Zersplitterung unserer Lebenswelt und der Vergänglichkeit des Seins setzt er die Unverrückbarkeit seiner Arbeiten entgegen, die in ihrem stillen Das ein unausgsprochen einen Anspruch auf Dauer formulieren. Der weite Zeithorizont bildet eine wesentliche Trasse für die Kontinuität im Wechsel und Wandel in Lehmanns Malerei. Und:Dem Chaos der Welt und den Zufälligkeiten der Dinge nötigt der Maler eine strengeOrdnung auf, indem er über die Auswahl und die Anordnung entscheidet. Lehmann bringt wieder Übersichtlichkeit in eine Welt stets übereizter Sinne und konstruiert Abbilder vomAlltag, die dennoch rätselhaft bleiben und erahnen lassen, dass hinter den sichtbarenGegenständen eine Welt voller Geheimisse und ungeahnter Beziehungen waltet. DieseÜbersichtlichkeit und Ordnung zielt auf die Entschleunigung im Bild, die eine Resonanz imBetrachter erzeugen kann, ist er denn dafür empfänglich: Läßt er sich auf dieseZwiesprache ein, erscheinen die Werke des Malers als labyrinthische Zeichen, die hieratisch in Szene gesetzt sind. So werden Lehmanns Bilder zu Reflexionsräumen für den Betrachter, also für uns selbst.
Wir leben in einer Zeit der ununterbrochenen Bilderflut. Von Smartphones und IPhones werden jeden Tag Milliarden von Bildern um den Globus geschickt. In den Video-Clips flimmert vor unseren Augen eine fragmentierte Welt im Wechsel von Sekundenbruchteilen.Diese Bilderflut hat durchaus etwas Zerstörerisches, denn die sichtbare Welt wird zerstückelt, in kleine Bild-Schnipsel zerlegt und dadurch ihrer Kohärenz beraubt. Einganzheitliches Erleben ist kaum mehr möglich. Dieser Zersplitterung und diesem Chaos, ja einer Auflösung der Welt in diese unübersehbare Bilderflut setzt Lehmann seine Bilder entgegen. Obwohl auch seine Bilderwelt nur Ausschnitt und Beispiel sein kann, ist sie aufGanzheitlichkeit gerichtet, denn das Bild und seine Teile sind Repräsentanten einer umfassenden Welt, die wir immer nur im Einzelnen erfahren können. Lehmanns Werkkonstituiert eine Welt der Ordnung inmitten des Chaos der Fraktale. Und so wird dasMalen zur Selbstvergewisserung für Lehmann in der Hoffnung, dass er als Künstler derWelt in irgendeiner Weise habhaft werden könnte.
Licht-Schatten-Wirkung bestimmen neben der Farbigkeit die Wirklichkeit der Dinge inLehmanns Arbeiten, aber zugleich auch ihre Rätselhaftigkeit. Wir kennen das Gemälde»Ceci n’est pas une pipe« (1929) von René Margritte. Auf dem Gemälde ist eine großeTabakspfeife mit diesem Schriftzug dargestellt. Wir sehen jedoch keine wirkliche Pfeife, sondern ein Abbild davon. Magritte verweist damit auf den irrealen, ja surrealen Charakter der Kunst, der illusionistisch ist. Wir sehen keine tatsächlichen Gegenstände, wir sehen in die Fläche niedergelegte Ausschnitte aus der erlebbaren Welt des dreidimensionalenRaumes.
Anders als der Maler Volker Stelzmann, der als entscheidender Lehrer von Lehmann sicherlich Wichtiges zur Entwicklung des jungen Kunststudenten beigetragen hatte, hat sich Lehmann das Stilleben als zentralen Ausdrucksträger seiner Kunst erarbeitet.Vereinzelt begegnen wir bei Lehmann auch Landschaften und Städteansichten.
In einem kurzen Text zu seinem Gemälde »Herbstsonate« (2020) schildert uns der Maler die Umstände, wie er zu seinen Gegenständen kommt. Sie entstammen nicht nur seinem persönlichen Lebensumfeld, sondern gelangten z.T. von weither in seine Sammlung, etwa aus dem Burgund. Aber auch Freunde bringen manches Stück, das dann Eingang in eineKomposition findet und im Bild mit anderen zu einem Ganzen zusammengefügt wird. DerTitel »Herbstsonate« verweist auf die Musik, und hier wie bei anderen komplexen StillebenLars Lehmanns beschreibt der Begriff komponieren den tatsächlichen schöpferischenVorgang treffender als zu sagen, Lehmann stellt die Dinge zusammen. Überhaupt wäre es sicherlich lohnend, einmal dem Apsekt der Musik in Lehmanns Werk nachzugehen. Dass der Maler am unteren rechten Bildrand ein Bildfeld mit einer ganz anderen Szene einblendet, nämlich einen Blick vom Füllenfelsen auf das Murgtal, verleiht dem Werk einen weiteren narrativen, beinahe anekdotischen Aspekt.
Wie ein memento mori führt uns Lehmann die Vergänglichkeit vor Augen. Nicht indem er einen Leichnam oder ein Skelett zeigt wie auf den mitterlalterlichen Totentanzdarstellungen, sondern Reste von Leben sind Repräsentanten dieserVergänglichkeit: Muschelgehäuse, Schädel und Gehörn, verwelckte Blätter undFruchtstände, die vom Herbst des Lebens künden. Diese Fundstücke aus der Welt dernatura morta (Tote Natur) versammelt Lehmann in der späten Nachfolge derWunderkammern und Naturalienkabinette, deren Ansammlung von exotischen Artefakten und Naturalien uns immer wieder staunen läßt. Auch hier steht Lehmann in einer jahrhundertealten Bildtradition von Stilleben, an der Grenze zur Trompe l‘Oeil-Malerei undvon Vanitas-Darstellungen, die insbesondere in der niederländischen Malerei des 17. bis18. Jahrhundert zu großer Blüte gelangt sind. Aber Lehmann ist ein Künstler des 21.Jahrhunderts, dessen Bildsprache sich zwar aus der Tradition entwickelt hat, nun aber zu einem unverwechselbaren ›Webmuster‹ gereift ist. Lehmann erschafft in diesen Vanitas-Darstellungen eine melancholische Poesie der Vergänglichkeit, ohne sich in Wehmut zu verlieren.
Und: Es ist ein Mythos, der Künstler schöpfe nur aus sich selbst. Jeder von uns wurzelt in seiner Kultur und damit auch in einer Bildtradition, die unsere Vorstellung von der Welt prägt. Und Lars Lehmann als Maler ist einmal mehr ein Mensch des Auges und desBildes. Hier sei auf die Bildtradition der Stilleben seit der Zeit der Renaissacnce und desBarock hingewiesen, aber auch auf die Malerei der Moderne. In Bezug auf LehmannsMalerei seien wenige Namen genannt, die in ihrem Werk vergleichbare Werke geschaffen haben: Giorgio de Chirico, Alexander Kanoldt und Giorgio Morandi.
Für das Werk von de Chirico ist der Begriff Pittura metafisica geprägt worden, also eineZusammenstellung von ganz unterschiedlichen Seins weisen, von Malerei und Metaphysik.Anton Henze schrieb über Giorgio de Chirico:
Er »wußte, daß die Sache unseres Jahrhunderts der Versuch und nicht dieVollendung ist. Er hat sich zeitlebens bemüht, das Rätsel in den Dingen undKreaturen, das Geheimnis der sichtbaren Welt zu lösen.
«Aber der Begriff Pittura metafisica beschreibt auch treffend das, was von LehmannsStilleben, seinen Städteansichten und Landschaften ausgeht: Es herrscht eine erwartungsvolle Stille zwischen den Dingen, in den unbelebten Straßen, auf dem weitenFeld, so als ob sich im nächsten Augenblick eine Epiphanie ereignen könnte. Die Ordnung der Dinge scheint trotz ihrer Statik nicht ungefährdet zu sein. Es wird durch das Bild eben mehr evoziert, als die Augen des Betrachters wahrnehmen. Eine dadurch konstitutierte weitere Seins ebene, die wir metaphysisch nennen, erleben wir in uns und sie vermittelt uns eine Vorstellung davon, welche Welten der Maler ersonnen haben könnte.
Lehmann formuliert in seinen Gemälden durchaus eine deutliche Kritik an den Umständen unserer Zeit: an der Schnelligkeit, der wechselnden Bilderflut, dem unablässigenWarenkonsum als dem »Goldenen Kalb«, um das wir alle tanzen sollen. Lars Lehmann weigert sich mit seinem Werk, dem Fetisch des Schneller, Höher, Weiter, des Mehr zu huldigen, wie es der Zeitgeist von uns allenthalben zu fordern scheint. Seine Werke können als Kommentare zur Zeit gelesen werden, und darin etabliert der Maler eineGegenwelt zu diesen Idolatrien der Eile und der Beschleunigung. Der Naturwissenschaftler und Schriftsteller Erwin Chargaff hat in seinem Essay »Kritik der Zukunft« vor annähernd40 Jahren einen – wie ich meine – beachtenswerten Satz geschrieben: »Was in der Zukunft [...] nötiger sein wird als je, ist, daß der einzelne Mensch einenRaum um sich schafft, der ihn von den äußeren Welt isoliert: einen Raum der Stille, der Ruhe, des Friedens, der Liebe, der Erinnerung.«
(Erwin Chargaff: Kritik der Zukunft, 1983, S. 31)
Und der Maler Lars Lehmann lädt uns mit seinem Werk ein, in eben einen solchen imaginären Bild-Raum der Stille und der Erinnerung einzutreten.