Vorher und danach
Lars Lehmann in „Galerie – Forum der Freunde und Mitglieder des Künstlersonderbundes“,
Heft 13/14, März 2009
Letztlich ist alles eine Frage des Glaubens. Die Frage lautet: Gibt es einen Sinn?
Die amerikanische Verfassung verankert die Beantwortung dieser Frage im Persönlichen. Sie nennen es “the pursuit of happiness”; das Streben nach Glück.
Herbst 1981
Was ist die Weltanschauung der Arbeiterklasse? Bohrend senkte die Frage der Staatsbürgerkunde-Lehrerin sich in meinen Gehörgang. Ich dachte nach. Nach meiner Erfahrung hatte die Arbeiterklasse keine Weltanschauung. Sie nahm hin, passte sich an. Also antwortete ich: “Weiß nicht”. Einhundertmal sollte ich es jetzt schreiben, den Namen jener obskuren Religion, die behauptete, die Geschichte hätte einen Sinn. Sie entwickle sich auf ein Ziel hin. Die Menschen wären eingeteilt in große Gruppen, “Klassen”, die sich befehdeten, einander unterdrückten, ausbeuteten und sich so zwangsmäßig verhielten, wie die Räder in einem gewaltigen Uhrwerk.
Für alle, die es vergessen haben, oder auch noch nicht wissen: Die historische Mission der Arbeiterklasse besteht in der Errichtung des Sozialismus. Das ist die Diktatur des Proletariats unter Führung einer Partei, eines Zentralkomitees und natürlich eines Generalsekretärs, nach den Prinzipien des Marxismus-Leninismus.
Maxi mus.- Doch das erste Mal erlebte ich Solidarität. Fünfmal schrieb ich, dann gab ich den Zettel weiter. Alle Schüler meiner Klasse schrieben. Oh, das Rädchen will wohl anders drehen?
Herbst 1986
Von Seiten des Stützpunktes besteht die Auflage zu 100 Prozent Mitgliedschaft im Armeesportverein. Sie unterschreiben hier, sonst kein Landgang. Hart, nach acht Wochen Grundausbildung. Genosse Major, selbstverständlich werde ich nach der Verlegung zum Stützpunkt und der Zurkenntnisnahme der dortigen sportlichen Gegebenheiten in die passende Sektion des Vereins eintreten. Oh, böses Rädchen. Vie knallharte Knackis, ebenfalls nicht eingetreten, aus wars mit den 100 per cent.
Herbst 1988
Hiermit bitte ich um die sofortige Exmatrikulation. Undankbares Rädchen, dummes Rädchen. Vollkommen aus dem Getriebe gesprungen. Der, in den das Volk der Deutschen Demokratischen Republik soviel Hoffnung gesetzt, in den es soviel investiert, nun will er einfach nicht? Nichts lernen über die Technologie der Holzverarbeitung, um später in seinem Heimatort Ribnitz-Damgarten im Bezirk Rostock im VEB Faserplattenwerk die sozialistische Produktion aufrecht zu erhalten. Nein, das wollte er nicht. Nun, da sie ihm anderthalb Jahre intensiv vorgeführt hatten, was Diktatur des Proletariats wirklich bedeutete, hatte er herausgefunden, was er wollte, und das hatte mit Freiheit zu tun.
Mit Freiheit, Pinseln, Stiften, Farben, Papier, Musik, Klang.
Winter 1988
Die große Stadt war feucht, graubraun, von Schmutz und Narben übersät. Zahllose Menschen hatten die Stadt bereits verlassen. Am Senefelder Platz hatten, wie an zahlreichen anderen Orten, junge Leute den Leerstand bemerkt und Wohnungen besetzt. Mit ihrer Hilfe fand ich ein Loch. Kein Wasser, kein Gas, kaputter Ofen, Klo halbe Treppe tiefer. Das vollkommene Glück. Tante Hilde aus Patzig (auf Rügen) hatte einen jetzt in Berlin lebenden echten Künstler aufgetrieben, Dieter Zander, der bereit war, mir Anleitung zu geben, und dieser schickte mich raus, draussen zeichnen, die Stadt. 22 Stunden am Tag zeichnete ich die Straßen, Häuser, Menschen, Tiere, Caféhausszenen, Autos, Mädchen. Die Streifzüge begannen in der Schwedter Straße und schnell war ich in der Schönhauser. Von dort führte eine Straße oberhalb der S-Bahngleise in westliche Richtung. Durch den verrosteten, dunklen Metallzaun aus dem 19. Jahrhundert sah man auf der anderen Seite der Geleise die schwarzen Brandwände der Mietskasernen. Bewohnte, basaltfarbene Monolithen, hatten sie seit Jahrzehnten die Phantasie der Maler erregt. Werner Heldt, Ernst Schroeder, Hans-Otto Schmidt, Konrad Knebel. Doch wenn ich diese verheißungsvolle Sackgasse entlangwanderte, sah ich Paris. Das Paris, das Edouard Manet mit schnellem, sicherem Strich und saftigen Farben gemalt hatte. Gare Saint- Lazare. An einem metallenen Zaun ein blondes Mädchen, über die Gleise schauend. Vor ihr der weiße Rauch der entschwundenen Lokomotive.
Ging man weiter, traf man auf die Ecke. Die Straße lag etwas erhöht, und von dort sah man sie. Ging man ein, zwei Straßen weiter, war sie klarer zu sehen, aber von hier sah man das riesige Areal der sich kreuzenden Bahnlinien und die gestaffelten Betonteile. Ebenmäßig, völlig gleich, von derselben Unnachgiebigkeit wie die Wände meines fernbeheizten Ribnitzer Arbeiterparadieskinderzimmers WBS-70.
Umging man das Gelände, folgte der Teutoburger Straße in Richtung Westen, und zeichnete Hofdurchfahrten oder Hinterhöfe, wurde man schon nach kurzer Zeit von besorgten, kittelbeschürzten Frauen gefragt, ob man sie aufschriebe.
Herbst 1989
Ausgerechnet Sopron. Hatte ich nicht eben da vor einem Jahr entnervt das Handtuch geschmissen. Und nun öffneten die Ungarn dort die Grenze. Die Sehnsucht nach Paris war größer geworden. Sprach ich davon, sah meine Mutter mich traurig an. Die zweite Ablehnung an der Kunsthochschule Weißensee machte mir doch zu schaffen. Zur Prüfungskommission sagte ich zwar mit jugendlicher Arroganz: “Dann stehen Sie eben später nicht in meiner Biographie”, begriff ich doch, daß meine Chancen dünner wurden. Um Geld zu verdienen verdingte ich mich als Museumsaufsicht, eine bleierne, lobotomisierende Hirnzerquetschung, die weitaus schlimmer war, als Marinestützpunkte zu bewachen. Es kam der 7. Oktober. Der glorreiche 40. Geburtstag sollte von glorreicheren Wahlen gekrönt werden. Das Wahlergebnis brachte ungeahnte 99, 99 Prozent für die, die es machten. Und dann begannen plötzlich die Demonstrationen. Es stellte sich heraus, daß es mehr Rädchen gab, die ihre historische Mission verweigerten. Da waren sie. Füllten die Schönhauser Allee. Drei Wochen später füllten sie den Alexanderplatz und halb Ost-Berlin. Eigentümliche Reden wurden gehalten, in Theateraufführungen politische Pamphlete diskutiert.
Fünf Tage später
Die zähe, braune Alkydharzfarbe bedeckte zögernd die hundert Jahre alten Fenster. Der Gestank durchdrang das Treppenhaus, als ich aufgeregt an die Tür meines Nachbarn klopfte. Hast Du es gehört? Die Mauer ist auf! Ungläubiges Staunen. Sie haben es im Radio gesagt. Wir hörten umständliches Polit-Kauderwelsch: Erster Sekretär der Berliner Bezirksleitung der Sozlistschen Einheitspartei Günt Bowski, auch ohne Erteilung von Visa Besuch des westlichen Auslandes möglich, ab: Sofort.
Aber Alkydharz und November sind unerbittlich. So strich ich mein Fenster zuende und machte mich am nächsten Tag auf. Die Treppenhäuser in Paris waren verschlossen. Mein Plan, bei Nichtquartierfindung Übernachtung auf nächstbestem Dachboden, scheiterte, und so wurde ich auf dem Gare du Nord von jemandem um die restlichen 70 DM Begrüßungsgeld gebracht. Willkommen in der Freiheit. Der Louvre und das Musee d’Orsay wollten allerdings gar kein Eintrittsgeld, und so fuhr ich glücklich heim.
Februar 2009
Nach kurzer Zeit erzählte mir Dieter Zander von der Hochschule der Künste in Charlottenburg. Ich bewarb mich, bekam den Platz, studierte, fuhr nach Italien, kam zu Professor Stelzmann, lernte etwas, beendete mein Studium.
Ich traf meine Frau, eine gebürtige Augsburgerin, und sie brachte mich wieder nach Mecklenburg. Hier leben wir seit 2000. Manchmal ist die Freiheit schwer erträglich, aber Alles in Allem finde ich sie einfach großartig.